Schon 1956 monierte ein Nachfahre Theodor Mommsens im Spiegel, dass nicht der im Juni eröffnete Neubau eines Gymnasiums in Westend, das heutige Heinz-Berggruen-Gymnasium, sondern ein Sportstadion den Namen des 1903 in Charlottenburg verstorbenen Historikers trägt. Des Rätsels Lösung: 1934 war das Mommsen-Gymnasium, ein Vorläufer des Berggruen-Gymnasiums, vorübergehend in das Tribünengebäude eingezogen. Die Schule benötigte Räume, der Sport-Club Charlottenburg war als Pächter aufgrund der Weltwirtschaftskrise in finanziellen Nöten. Die Schule zog aus – der Name blieb!
Beim ersten Blick auf die Fassade des Stadions leuchten die markanten halbzylindrischen Treppenanlagen auf, deren türkisfarbene Glas-Metall-Konstruktion baulicher Ausdruck der Neuen Sachlichkeit zu sein scheint.
Tatsächlich ist das 1930 eingeweihte Mommsen-Stadion das Werk eines Bauhaus-Architekten: Fred Forbát (1892-1972), ungarisch-jüdischer Herkunft, arbeitete mit Walter Gropius in Dessau. Sein 1928 gegründetes Berliner Büro florierte sofort. Mit seiner Beteiligung an der „Ringsiedlung“ (Weltkulturerbe) in Siemensstadt und der „Reichsforschungssiedlung“ in Haselhorst war er auf dem Weg, einer der Star-architekten des Neuen Bauens zu werden, bis ihn die Nationalsozialisten ins Exil zwangen.
Die Sportstätte repräsentiert in vielerlei Hinsicht einen Teil der Berliner Geschichte: Spätestens bei den Olympischen Spielen 1936 werden Nazifahnen am Forbát-Bau geweht haben – das Stadion war einer der Austragungsorte des Fußballturniers. Bereits 1933 war der assimiliert-jüdischen Reformpädagogin Lotte Kaliski, die Räume im Tribünenbau für eine Grundschule gemietet hatte, gekündigt worden. Sechzehn Jahre später, 1949, ist das Mommsen-Stadion Austragungsort des ersten ISTAF nach Kriegsende. Ernst Reuter bezeichnete den „bescheidenen“ Beginn – 4.000 Zuschauer – als „verheißungsvolles Bekenntnis für den Gedanken der Zusammenarbeit aller friedlich gesinnter Völker“. Schließlich feierte siebzig Jahre nach Forbáts Flucht Deutschland das „Fußball-Sommermärchen“, euphorisch und friedlich Nationalfahnen schwenkend. Das heute denkmalgeschützte Stadion wurde anlässlich der WM 2006 modernisiert, von 38.000 auf 17.000 Plätze verkleinert und mit einer Flutlichtanlage versehen. Die deutsche Nationalmannschaft konnte zum Training auf den Platz auflaufen.
In Vielem blieb das Stadion über die bald 100-jährige Geschichte das, was es immer war: Heimplatz für den SC Charlottenburg und seit 1945 auch für Tennis Borussia. Es erlebte dramatische Aufstiege und Abstiege der Fußballmannschaften, diente der Förderung von Talenten in vielen Sportarten, war Trainingsstätte für Leichtathletikstars wie für den Breitensport. Noch immer kann man Läufergruppen beim Ziehen ihrer Bahnen beobachten, noch immer wird mit großer Leidenschaft Fußball gespielt, noch immer laufen schnatternde Gruppen von Hockey- und Fußballkindern über die Waldschulallee in die Umkleidekabinen. Es hat Generationen von Schülern aus den umliegenden Schulen zur Absolvierung der Bundesjugendspiele aufgenommen und sich neuen Sportarten wie dem American Football geöffnet. Alles in allem: Ein lebendiges Vermächtnis sozialen Bauens und Planens in der Weimarer Republik – und eines seiner Architekten.
Text und Bilder von crb
* Dieser Beitrag erschien im infoeichkamp Nr.1 von 2022