von Ewald Schürmann
Einfach mal Eintauchen ins italienische Frühbarock und mit dem Schmerzklang der Sängerin ein „Oh, disgrazia fatale!“ („Oh, verhängnisvolles Unglück!“) das ganze Gefühlsarsenal von übertriebener Liebesgefühle auf sich wirken zu lassen – das ist schon ein besonderes Musikerlebnis. Ein kultureller Luxus, der sich überhaupt nicht von dem beeindrucken lässt, was unsere Alltagsfragen und aktuellen Probleme betrifft. Einfach hineinhören in eine Zeit, die uns ganz und gar fern ist, aber mit ihren wunderschönen Klängen verführen kann – zum intensiven Zuhören. Dieses kleine und feine Konzerterlebnis haben Sonntagabend am 8. Mai 2016 Sinje Kiel und Shizuko Noiri im Eichkamphaus geboten, vor einem vollbesetzten Saal, dessen erstaunliche Akustik wie immer ein sehr präzises Hören ermöglichte.
Die japanische Lautenspielerin Shizuko Noiri schien diese nahezu plastisch wirkende Akustik zu genießen, denn sie spielte ihr kompliziertes Instrument mit einer technischen Hingabe, dass schon das Beobachten ihrer Fingerbewegungen auf den Saiten eine eigene Faszination ausübte. Man konnte regelrecht sehen, wie sich Musik aus dem Hantieren am Instrument ergibt. Fein auch das gesamte Klangerlebnis bei den instrumentalen Solostücken, die jedes Mal hochkonzentriert ohne langweilende Routine dargeboten wurden. Die international gefragte Solistin und Continuospielerin war in Berlin zuletzt als Ensemblemitglied unter der Leitung von René Jacobs in der Barockoper „Amor vien dal destino“ in der Staatsoper im Schiller-Theater zu hören.
Die Sopranistin Sinje Kiel war sofort mit ihrer Stimme und ihrem souveränen Bühnenauftritt im Saal des Eichkamphauses präsent, um die Zuhörer in die barocke Stimmung der „süßen Seufzer“ zu versetzen, wie der verlockende Konzerttitel mit „Dolcissimi sospiri“ versprach. Die in den Niederlanden lebende und vielfach als Solistin auftretende Barockexpertin und Gesangsdozentin beherrscht ein großes Repertoire nicht nur der italienischen Barockmusik, sondern wie wir in ihrem letzten Eichkamp-Konzert 2010 hören durften, auch solcher englischen elisabethanischen Komponisten wie John Dowland aber auch bis zur Moderne eines Paul Dessau. Doch diesmal spannte Sinje Kiel den Bogen nicht zu weit, sondern fokussierte auf ein ausgewähltes Programm des 16. – 17. Jahrhunderts. Für die Zuhörer war es eine gute Hilfe, im Programmheft die italienischen oder niederländischen Texte mit den deutschen Übersetzungen vor Augen zu haben, so dass die meist textstarken längeren Lieder in ihren Inhalten deutlich wurden. Man merkt, dass die Sängerin eine gewisse musikpädagogische Botschaft im Sinn hat und das Publikum an die alte Musik heranführen möchte. Das ist ihr wohl auch gelungen, denn die Eichkamper Zuhörer waren äußerst konzentriert und offen für die sicherlich meist nicht so geläufigen Lieder. Ein Favorit des Liederabends war sicherlich die Venezianerin Barbara Strozzi (1619 – 1677), deren Liedkomposition „L´Amante Bugiardo“ als Beklagung der Kreuzigung des Jesus mit wunderbar starken Ausdruck gesungen wurde. Das war ein Höhepunkt des Abends, der sich vielleicht so einprägte wie im Konzert vor zehn Jahren John Dowlands „Come Again“, das allerdings wesentlich populärer ist als die Lieder der Barbara Strozzi. Aber auch die anderen Lieder an diesem Konzertabend brachten viele Überraschungen und Entdeckungen und waren einfach schön anzuhören. Das Publikum dankte mit starkem und herzlichem Applaus.
Nachbemerkung: Die in Eichkamp aufgewachsene Sinje Kiel, deren Familie übrigens die Konzertbesucher in der Pause mit sehr leckerem und fantasievollem Fingerfood kulinarisch verwöhnte, gab noch eine Episode aus ihrer Jugendzeit zum Besten. Mit dem Hinweis auf im Publikum anwesende ehemalige Klassenkameradinnen erinnerte sie an alte Zeiten, in denen sie Lieder von Bettina Wegner mit eigener Gitarrenbegleitung gesungen hatte. Ehrlich gesagt, kratzte diese Erinnerung bei mir etwas am Image der hochartifiziellen Barocksängerin. Das sich ausgerechnet Bettina Wegner („sind so kleine Hände“ ist sicherlich das am meisten zitierte und auch gerne belächelte Lied der engagierten Liedmacherin aus der DDR bzw. Oppositionelle gegenüber dem sozialistischen Staat) als Vorbild für eine angehende Sängerin des klassischen Fachs geeignet hat, mag überraschen. Aber so sind wohl die Berliner Biografien und junge angehende Sängerinnen schulen sich hier nicht an alten Callas-Platten, sondern sind offen für alles, was sich in der Musikwelt ob politisch oder nicht, tut und bereiten sich so auf ihre eigene Musikkarriere vor. Auch das passt gut zu einer Eichkampbiografie.
Mai 12 2016
1 Kommentar
Lieber Herr Schürmann, vielen Dank für die schöne und ausführliche Konzertbesprechung! Erlauben sie mir folgendes hinzuzufügen: Doch, ja, tatsächlich hat auch Callas mich zum Gesang ge/verführt! Puccinis La Bohème aus der Kollektion meiner Eltern hat mich (immer das Textheft in der Hand) zu Tränen gerührt. Und die Stimme von Maria Callas, die hätte ich gerne gehabt… Alle Biografien über sie habe ich gelesen. Aber auch der direkte Stimmgebrauch von Liedermachern hat mich eben immer sehr angesprochen. Sehr wortbetont seine Botschaft singen- früher mit Gitarre und heute mit Laute: „Prima la parole, doppia la musica“. Text vor Musik, Rhetorik wie bij Monteverdi. Sicherlich meinen sie als letztes Stück vor der Pause Merulas „Canzonetta Spirituale sopra alla nanna“ und nicht Strozzis „L’Amante Bugiardo“. Der Titel war im Textbuch leider nicht dick gedruckt und daher sieht es so aus, als ob Strozzis Lied weitergeht… ich bitte um Entschuldigung! Herzliche Grüsse aus den Niederlanden, Sinje Kiel