von Ewald Schürmann:
Literatur über Tango und Literaturlesung mit Tango waren Thema und Aktion zugleich auf der Veranstaltung „Literatur meets Tango – Lesungen und Gespräch: …begehren“ am Samstag den 4. Juni 2022 im Haus Eichkamp. Der Andrang war groß, ein Publikum mit 125 Gästen reizte die räumlichen Grenzen aus, einige Leute saßen auf Kinderstühlen, die noch irgendwo herumstanden. Das Konzept und die Dramaturgie des Abends versprachen eine spannende Abwechslung zwischen Lesungen, Musik, Tanz und Diskussion – wobei sich alles um den Tango drehte. Der Tango ist ungemein vielschichtig, einmal souveräne Bewegungen beim Tanz, dann ein Beziehungsspiel zwischen Paaren mit einer zwischen den Bedeutungen changierenden Gestik, oft auch ein Kampf zwischen alten Vorstellungen von Machorollen und der Emanzipation neuerer reflektierter Geschlechteridentitäten, aber immer durchweg die Faszination einer wunderbaren Musik, die einfach getanzt werden muss. Tangomusik ist ungeheuer stimulierend und dem kann sich niemand entziehen.
Die Journalistin und Autorin Lea Joan Martin las aus Kolumnen ihres Sammelbandes „Tango Dreams“. Ihre Berichte aus dem Inneren der Tangoszene sind eine genaue Beschreibung der technischen Seite des Tanzes mit vielen Details, die die erfahrene Tangotänzerin verraten, und ein Umschlagen in kritische Beobachtungen der tanzenden Menschen und vor allem Männern mit merkwürdigen Attitüden und eitlen Selbstüberschätzungen, was als Ironie und Persiflage mit befreiendem Lachen vom Publikum der Lesung aufgenommen wurde.
Der Lyriker und Tangolehrer Armin K. Marschall trug einige seiner Gedichte vor, die das Begehren beim Tango sowohl in sinnlichen Bildern („Rose zwischen den Zähnen“) als auch nach rationalen mathematischen Formeln klingenden Wortgebilden („…jeder Fuß ist die Potenz von Raum“) fasste. Sprachlich anschaulich wurde, wie das Dichten über Tango zu starken Bildern und großer Leidenschaft verführt.
Der Journalist und Autor Ewald Schürmann führte in den neuen Tango-Roman „RikschaTango: Oskars fünfte Dimension“ von Heinrich von der Haar ein, indem er in einer Übersicht alle bisherigen Romane des Autors Revue passieren ließ, dabei den Fokus auf die Entwicklung der Körperlichkeit der Romanfiguren legte. In der biografischen Trilogie der Literaturfigur Heiner werden in den drei großen Romanen „Mein Himmel brennt“, „Der Idealist“ und „Kapuzenjunge“ biografische Stationen beschrieben, die vom Bauernjungen über den Studenten und Akademiker bis zum alleinerziehenden Vater eines libanesischen Waisenjungen Entwicklungsphasen von Körperlichkeit beschreiben. Das sind so ganz unterschiedliche Erfahrungen, wie die Kinderarbeit auf dem Bauernhof, die Schläge des autoritären Vaters, der sexuelle Übergriff durch einen kirchlichen Betreuer, dann die sexuelle Revolution und Befreiung in der Studentenbewegung, schließlich eine harte Phase als gescheiterter Pflegevater, dessen Adoptivsohn durch Drogenkonsum sich selbst in einen Teufelskreis von physischer und psychischer Selbstzerstörung manövriert. Vor dem Hintergrund dieser Lebenswege dann ein Roman über den Tango? Gibt es hier eine Versöhnung mit einem harmonischen Körper?
Der Schriftsteller Heinrich von der Haar las eine Episode aus seinem Roman „RikschaTango“. Ein Buch, wie eine Milonga inszeniert, durchgehend motivisch strukturiert durch Zitate von Tangoliedern im spanischen Original und in deutscher Übersetzung. Die ausgesuchte Kleidung der Tanzenden wird in ihrem exquisiten Stil beschrieben, schließlich ihre exaltierten Bewegungen durch die Räume der Berliner Tangoorte. Überhaupt, Berlin als ein Hotspot des Tangos steht immer im Mittelpunkt, ob im alten Arbeiterbezirk Wedding oder in der bürgerlichen Wohngegend Schönebergs. Tango ist viel Technik, natürlich in allerlei Ziselierungen und Verspieltheiten, aber immer gekonnt und zwischen den Paaren abgestimmt – das wird vom Autor sehr kundig beschrieben und liest sich fast wie ein Tangolehrbuch. Aber das macht noch keinen Roman, dafür steht die Handlung der Hauptfigur des Tangotänzers Oskar. Ein toller Tanguero, erfahren und in seiner tänzerischen Technik unerreichbar, bewegt er sich wie ein Löwe auf dem Parkett und räumt alle Tänzerinnen ab, die darauf warten, einmal einen perfekten Tango zu tanzen. Aber Oskar hat ein, nein, viele Probleme: Er ist alt, kränklich, Hartz-IV-Empfänger mit einem Job als Rikschafahrer, also einer der typischen Berliner abgerissenen Typen. Dazu hat er auch noch irgendwie keine Peilung, mit welcher Partnerin er am liebsten tanzen möchte und irrt zwischen verschiedenen Frauen umher. Doch dann trifft er auf einen Traum von Frau, eine super Tänzerin, atemberaubend schön, tolle Figur und Oskar tanzt mit ihr den besten aller Tangos. Aber er will mehr, will diese Frau, doch sie zeigt sich kühl, braucht einen Mann nur als Partner für den Tango und hält sich dafür alle Freiheiten offen. Oskar ist frustriert, in seinem Stolz gekränkt, wird krank, er muss wieder in die Normalität des Alltags zurückfinden. Mit Hilfe einer alten Freundin gelingt es und sein Leben geht weiter, wobei auch immer noch der Tango schöne Momente bietet. Eine Geschichte über Selbstüberschätzung und falsche Träume. Ein Roman über die Berliner Tangoszene und eine besondere Gesellschaft aller möglichen Individuen, die bloßer Spaß am Tanzen oder ernste Tangoverbissenheit umtreibt, und dazwischen viele andere Motive pflegen. Ein unterhaltsames, kritisches, ironisches und wieder in seiner genauen Beobachtung ernstes Buch.
Zwischen Lesungen, Musik und Tanz wurde diskutiert und teils richtige Pflöcke von Feststellungen über den Tango gesetzt. So z.B., dass Tango Kommunikation sei, aber ohne jegliche Möglichkeit zu verschiedenen Deutungen, denn ein Seitwärtsschritt beim Tanzen wäre einfach nur ein Seitwärtsschritt und lasse einfach keine Interpretation zu. Zur Frage, ob Tanzpaare beim Tango nur miteinander verbunden seien, weil sie eine Illusion teilen, wurde klargestellt, dass bei einem Paar bei längerem Tanzen vor allem der Schweiß miteinander geteilt würde. Strittig war die These, dass sich ältere männliche Tangotänzer über sechzig Jahre mitunter auch eine Illusion zurechtlegen, wenn sie meinen, dass mit dem Alter die Erfahrung und technische Perfektion beim Tango wüchsen und somit auch ihre erotische Ausstrahlungskraft und damit ihre Attraktivität gegenüber weiblichen Tanzpartnerinnen.
Sinnlich wurde dieser Lese- und Diskussionsabend durch die wunderbaren Musikstücke von Korey Ireland, der sich mit dem Bandoneon wie ein Musikwissenschaftler durch das große Repertoire der Tangomusik spielt. Das Tanzpaar Kremenar und Oskar führten dabei vor, wie zwischen der Lesebühne und dem Publikum immer noch genug Platz ist, um weitschweifig den Tango zu tanzen.
Am Ende der Veranstaltung ging es dann immer noch weiter mit Tango und das Publikum füllte den großen Saal im Haus Eichkamp mit Tanz.